Die Erinnerung an eine Landschaft
Karl der Graue betrat nach so langer Zeit wieder Terrain, dem er entflohen war. Er suchte nach Zeichen seiner Vergangenheit und fand sie. Eine Schaukel baumelte im Hof des Elternhauses von dem mächtigen Ast einer Platane. Ein alter Pflaumenbaum, hinter dem Hühnerstall trug schon kaum gebläute kleine Früchte. Sein Großonkel mochte ihn gepflanzt haben, denn er kaute meistens auf einem Pflaumenkern herum. Ein verrosteter Pflug, von dichtem Brombeergestrüpp überwuchert, ein tönernes braunes Ei im Stall, das den Legehennen vorgaukelt, hier sein ein guter Platz die eigenen Eier hin zu legen. Ein Holztrog, aus dem Stamm einer Buche getrieben, man mischte das Futter für die privaten Sauen darin, die grob gezimmerte Bank vor dem rückwärtigen Ausgang des Hauses – wer darin des Nachts in den klaren Sternenhimmel blickte, dem wollte sein eigener Kummer kleinlich vorkommen. Ein Karnickelstall im Abstellraum für die Landmaschinen – das zerschlissene Drahtgeflecht der offenstehenden Türchen und das wurmdurchlöcherte Holz verrieten, dass darin seit Jahrzehnten kein Tier mehr gehalten worden war.
In der Stube, in der nacheinander seine Mutter, sein Vater und zuletzt seine Stiefmutter aufgebart lagen, damit man Abschied von ihnen nehme, wie es der Brauch war, saß Karl in seiner grauen Kluft, der Einzige mit langem Haar, seinen Halbbrüdern an einem kleinen massiven Rauchtisch gegenüber. Das Zimmer roch leichenmuffig, obwohl Walter, Elisabeths erster Sohn, seine Frau Dorothee zurechtgewiesen hatte, rechtzeitig vor der Verlesung des Testaments, die Stube zu lüften. Clemens, der jüngste der Brüder, den Elisabeth erst mit 42 Jahren zur Welt gebracht hatte, zündete unter den drohenden Augen seines Bruders Walter eine Zigarre an.
„Eine von Vaters, ich denke der Anlass ist angemessen, außerdem, wenn sie noch zehn Jahre in der Schachtel liegt, wird sie auch nicht besser.“ – „In dieser Stube wird nicht geraucht, nicht heute, wo wir so viel zu besprechen haben,“ erwiderte Walter, der sich kaum beherrschen konnte, selbst in die hölzerne Schachtel zu greifen, die da so einladend auf dem Tisch stand, als würde der Vater gleich kommen und hineinlangen.
Da schlug Karl vor: „Lasst uns hinters Haus gehen zu Vaters Bank und zwei Stühle mitnehmen, es ist milde draußen.“
„Und wo sollen wir die Papiere ausbreiten, auf dem Erdboden vielleicht?“ sagte Clemens und gab Walter ein Zeichen, damit Karl nicht die Hoheit über die Verhandlung gewönne. Doch Karl hatte schon zwei Stühle in der Hand und ging damit behutsam zu der niedrigen Stubentür.
„Öffne mir doch bitte die Tür Clemens!“
Die Standuhr in der Stube schlug wie von fern halb vier. Walter stellte den schweren Rauchtisch, den er mitgenommen hatte, mühelos vor der kleinen väterlichen Bank ab. Elisabeth hatte da nie ohne Eifersucht gesessen, weil sie wahrnahm, wie ihr Mann dort innehielt, wenn ihn die Unruhe und Erinnerungen umtrieben, und wie er diesen Platz eigentlich nur für sich und nur zu einem Zweck beanspruchte: zur lautlosen Zwiesprache mit seiner gestorbenen ersten Frau, der er nicht verzieh, dass sie in allein zurückgelassen hatte.
Viel war nicht zu verteilen. Walter und Clemens boten Karl einen Sebstgebrannten an. Er lehnte ab und so enthielten auch sie sich zunächst. Dann wurde das Gespräch zwischen Walter und Clemens zusehends hitziger, nämlich als die Sprache auf einige Gegenstände aus Elisabeths Truhe kam, die keiner der beiden dem anderen gönnen mochte. Und beide begannen, Schnaps zu trinken. Das Hochzeitskleid, die Taufkleidchen der beiden Jungen, das Paar solider bäuerlicher Sonntagsschuhe, das die Mutter nie getragen hatte, weil sie die Schnalle darauf für eitel hielt, ein silbernes Amulett mit dem Bildnis der Urgroßmutter und einen Perlmutterkamm, den Karl Elisabeth aus Persien geschickt hatte, aber das ahnten Clemens und Walter nicht. Es waren dies keine Werte, um die der alte Streit sich drehte, sondern es ging wie eh und je darum, wen die Mutter mehr liebhaben sollte. Elisabeth hatte über diese Dinge, die ihr selbst so viel bedeuteten nicht verfügt, weil sie den Brüdern keine Gelegenheit geben wollte, ihre Anweisung als Bevorzugung oder Benachteiligung zu missdeuten, gerade eben, wie die Söhne der Mutter es zu Lebzeiten vorgehalten hätten. Wie die Vermögenswerte zu vererben seien, hatte die resolute Alte allerdings in zähen Verhandlungen mit dem letztendlichen Einverständnis beider Söhne zu ihren Lebzeiten geregelt, als sie noch völlig gesund war und Kraft zum Streiten hatte.
Clemens trank jetzt wie abwesend aus der Pulle. Als er merkte, dass er nicht alles bekam, was er sich vorstellte, erst recht und zu viel. Walter, der den Schnaps immer besser vertrug, leerte den Rest in einen Zug, um Clemens zu beschützen. Der nüchterne Karl dachte an Takuan Soho und nahm sich vor den Brüdern am nächsten Tag das Versprechen abzuringen, dem Bau der Marienkapelle nicht im Wege zu stehen, wie es Vater und Stiefmutter gewünscht hatten, wenn möglich sollten sie sogar selbst Hand anlegen beim Bau, dann würde er auf sein Erbteil verzichten.