Im Glashaus zu singen (10)

(10) Schwerer Systemfehler

Am unteren Rand des Päckchens war das Packpapier bis zur Mitte aufgerissen und man erkannte dort die ausgeblichene Dekoration des Kartons – in Reihen fortlaufend gekreuzte Kurzschwerter und noch ein Ding, das vielleicht ein Äskulapstab sein konnte, nur mit zwei Schlangen statt einer.

Vorsichtig schüttelte er das Paket, dann presst er sein rechtes Ohr dagegen: Leises Glockenspiel glaubte er zu erahnen. Mal jenes von der Hinterbühne dringende Glockenspiel aus der Zauberflöte, mal das Xylophon im ersten Satz von Mahlers Sechster. Und dann waren da noch die dröhnenden Glocken, die den Absturz der Turmuhr kommentierten, rythmich begleitet vom Herniederprasseln des flüssigen Bleis aus dem Dachgestühl der brennenden Kathedrale.

Im Ohr fühlte Mundl die mächtige Zunge Gottes. Er umklammerte sein Packet.

Der arbeitslose Guru ‚Gott‘, dessen Kundschaft jetzt nur mehr in Mecklenburg-Vorpommern ihr Heil suchte, entfernte (was er ‚in aryuvedischer Tradition‘ nannte) Ohrenschmalz bei Wildfremden – eine Dienstleistung, durch die er sich eine Werbewirkung für sein eigentliches Geschäft ausrechnete.

Mundl sah sein Paket aus der Nähe an und entdeckte neben der unübersehbaren rotierenden bordeauxfarbenen Gummizunge, deren Spitze aus seinem Ohr schnellte, einen Werbeaufkleber des Gurus, dazu noch die Beschreibung, wie man aus einer Ecke etwas Rundes machen und sich durch Meditation ein kleines Menjoubärtchen wachsen lassen könne. Alles fast gratis. Heutzutage ist die Schulmedizin kaum anders.

Das Paket in Händen schlenderte er aufmerksam dem Mercado San Telmo entgegen, wobei er geschickt einer Drückerkolonne in pinken T-Shirts auswich. Auf der Vorderseite der Shirts las er die Buchstaben R.U.R.

Es gab kleine Anzeichen für den Aufstand, und er würde in nächster Zeit kommen.

Jäh wurde ihm sein Eigentum, sein begehrtes Paket aus der Hand gerissen, er selbst dabei zu Boden gestoßen, so das er den Dieb nur noch von hinten sah: eine dürre, schwarzgekleidete Gestalt, an deren Kopf ein fuchsschwanzartiger Zopf pendelte. Ein junger Araber, Russe oder Chinese erschien. Der wollte Mundel aufhelfen. Mundl wehrte hysterisch ab. Der Araber schüttelte den Kopf und zurrte seinen Gürtel enger, worauf er lachte und aus der Geschichte verschwand?

Nachtrag:

Mundls Blick traf die einzige marineblaue Stelle am Himmel, wie ein kleines schwarzes Loch warf sie einen Schatten auf einen Gullideckel, den eine Mondsichel zierte, Artauds Fresse im Profil verblüffend ähnlich.

Er sprang darüber hinweg, worauf eine Dame mit Hündchen ihn anspuckte: „Mir ist eben klar geworden, dass man mit der Gesellschaft und ihrer Öffentlichkeit keine andere Sprache mehr sprechen kann als die der Bomben, der Maschinengewehre, der Barrikaden und allem, was daraus folgt“, sagte die Dame. Ihr Hund hatte einen Haufen gelegt, den sie pflichtbewusst liegen lassen musste – sie spottete: „Vorsicht, er beißt, Bourgeoi – sie.“ „Kein Wunder“, entgegnete Mundl, „in fortgeschrittenem Alter mutet Pippimachen heroisch an.“ „Wuff“, bellte der Pudel hinter der sicheren Bariere der Beine seines Frauchens: „Wuff, Wuff, ich kann spüren, wie sich einige Kohlenstoffatome in deiner Aminosäure voneinander lösen und einen Tanz aufführen.“ Alicia de Larrocha spielte die Suite BWV 807. Es war nicht schön. Mundel stopfte Stöpsel in seine Ohren.