Zweimal, zuerst, als sich in den späten Achtzigern beim Kampf um egalitäre Machtstrukturen im links-alternativen ‚Radio 100‘ die Fraktion der ‚Professionalisierungsfreunde‘ durchsetzte, die nicht weniger als eine vollständige Zerschlagung der gewachsenen Unabhängigkeit und Gleichberechtigung der Redaktionen taktisch durchsetzen konnte, und einige Jahre später im öffentlich rechtlichen Inforadio von SFB und ORB, kamen mir starke Bedenken an dem(und auch meinem) bis dahin gut gepflegten aber im öffentlichen Diskurs noch besser versteckten Ressentiment gegen die offensichtlichen Verlierer des Umbaus der Gesellschaft, die das Bewusstsein der bürgerlichen Linken ohne viel Federlesen zum Prozess gehörig akzeptierte – jene bürgerliche Linke, die das schiere Vorhandensein von Klassen und Klassenkampf in den vorangegangenen Jahrzehnten leugnen lernte und zuweilen selbst die sprunghaft ansteigende Chancenungleichheit ihrer Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben in der Ära nach Kohl, in ihren moralischen Vorstellungen mühelos auszublenden verstand.
Ich war damals auch der Meinung, dass es eine Arbeiterklasse im klassischen Sinn, wie sie die marxistische Theorie vorgibt, nicht mehr gäbe. Auch heute noch weiß ich nicht, wie sie zeitgemäß zu definieren wäre. Ich und viele, die gleich mir, sich erst in den 80ger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten befrieden lassen, indem sie sich trotz ihrer prekären Arbeitsverträge (z.B. als frei Mitarbeiter) bis dahin unangefochten der großen Schnittmenge der Mittelschicht zugehörig fühlten, fielen gerne auf die Formel herein, welche auch die öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten, bei denen ich vogelfrei war, im vollen Einklang mit dem neoliberalen Umbau der Gesellschaft für uns kreiert hatten: Festanstellung bedeutete demnach die Unfreiheit der Weisungsabhängigen. Frei war, wer Aufträge annehmen und ablehnen konnte. Es war klar, dass diese Freiheit in der Praxis, z.B. bei der Dienstplan-Gestaltung nach teilweise absurden Kategorien von Auftragskonkurrenz, niemals existierte – im Gegenteil. Das gipfelte für mich in einer Begegnung mit meiner Ressortleiterin, die mir erklärte, ich solle doch zufrieden sein mit der Anzahl meiner Dienste, denn schließlich käme ich, den tariflichen Urlaub eingerechnet, ja durchschnittlich immerhin auf nominelle 12 Schichten im Monat. Die Verfügbarkeitsdoktrin des Arbeitgebers verlangte andererseits, dass s.g. frei Mitarbeiter, ständig unter Konkurrenzdruck stehend, ihr Gefragtsein im Fachsegment des s.g. Arbeitsmarktes unter Beweis stellen mussten, oder zumindest großspurig sich derart gefragt darzustellen hatten. Es gab wahre Meister in dieser Disziplin. Ich hatte eine Zeit lang Glück mit zwei Jobs, beim ORB und beim SFB. Nach der Fusion der Anstalten zum rbb war es damit vorbei. Krank sein? Verboten. Urlaub? Am besten gestückelt.
Diese Maßnahmen der Arbeitgeber dienten mitnichten, wie gerade den s.g. Freien schnell klar wurde, aber gebetsmühlenartig von den s.g. Arbeitgebern behauptet wurde , einer irgendwie gearteten Steigerung der Qualität- z.B. des öffentlich rechtlichen Programmangebots, das im Gegenteil an journalistischen Kriterien gemessen immer schlechter wurde, sondern dem beschleunigten Abbau von rechtlich verbindlichen Arbeitsverhältnissen im Unter- und Mittelbau der Unternehmen. Die Geschäftsleitung hingegen blähte sich planmäßig – fünf peitschen, drei rudern.
Der Begriff Arbeitsmarkt war von vornherein dazu auserkoren, einen von den Unternehmern gewünschten Sklavenmarkt zu etablieren, im Verein mit der politischen Klasse und mit Hilfe geballter Medien- und Interessenmacht (Springer, Bertelsmann u.s.w.) in den neoliberalen Denkstuben der Begriffsverdreher und Einheizer. Es hat mich nicht gewundert, dass die Sozialdemokraten in der deutschen Sozialdemokratie unterlegen waren, als Schröder, Steinbrück, Clement, Steinmeier und Müntefering dem Sozialstaat den Todesstoß versetzten. Es hat mich eben so wenig erstaunt, dass die Beschäftigten, der geplatzten Dotcom-Blase später allesamt doppelt angeschmiert waren, weil sie als kleine Aktionäre und Eigentümer, ihren Status als ‚Arbeitnehmer‘ leichtfertig verschenkt hatten. Gewerkschaftsmitglied war da meines Wissens kein Mensch. So etwas wie Betriebsräte oder Arbeitnehmerorganisation im Betrieb, waren überflüssig, ja vom Standpunkt des Miteigentümers kontraproduktiv weil das die Profite schmälerte. Wie konnte es zu solch einer Dummheit kommen? Viele Kollegen im Journalismus standen gern und stehen bis heute auf der Gehaltsliste der Totengräber des Sozialstaats. Das ist eine von vielen und eine starke Ursache für die Unachtsamkeit von uns s.g. Arbeitnehmern.
Aber auch die Haltung der Gewerkschaften war mindestens drei Jahrzehnte lang verheerend. Wie fast in allen Gewerken der s.g. Dienstleistungsbranche, tendierte auch und gerade die Konfrontations- und Kampfbereitschaft der Gewerkschaft IG-Medien gegen null. Ich war noch in die RFFU eingetreten, IG-Medien, das klang für mich immer wie IG-Farben.
Lohnverzicht und die gesellschaftliche Übereinkunft des einseitigen Verzichts auf das Machtmittel des Streiks zugunsten des undeutlichen Konstrukts der westdeutschen Tarifpartnerschaft, insbesondere propagiert von den Gewerkschaftsleitungen vermittels des (nicht immer unwidersprochenen) Umbaus der Klassenorganisation zum bloßen Dienstleister für Arbeitsplatzinhaber, trieb klassenbewusste wie gewohnheitsmäßige Mitglieder scharenweis zum Austritt. Die Pleiten und Korruptionsskandale in den gewerkschaftseigenen Betrieben, die noch frisch in Erinnerung waren, trugen ein Übriges zu diesem Prozess bei und verschärften die Erfahrung der realen Machtlosigkeit der an der Basis Organisierten – analog zu den verbliebenen Sozialdemokraten in der westdeutschen Sozialdemokratie.
Das Bild, das diese Gewerkschaften boten und bieten, liefert eine permanente Steilvorlage für die Agenten des neoliberalen Umbaus, der Verteilung von unten nach oben. Dieses Bild allein trägt bis heute fast ausschließlich die Beweislast für die Behauptung des Klassengegners, die Standesorganisationen der Arbeiterklasse hätten generell abgewirtschaftet, mehr noch, Gewerkschaften seien überholt und überflüssig, wo immer sie mehr als die Wahrung der Interessen der Beschäftigten innerhalb des Konstrukts der Sozialpartnerschaft, gar für eine ohnehin nicht mehr vorhandene Klasse postulieren. q.e.d.
Die Position der Gewerkschaftsbosse hat sich meines Erachtens in den letzten 20 Jahren nicht entscheidend geändert. Trotz ihrer zunehmend kämpferischen Rhetorik, dem zunächst zaghaften und nun inflationären Gebrauch von Begriffen, die jahrzehntelang innergewerkschaftlich als dumm, unzeitgemäß und also obsolet gebrandmarkt waren. Dass es für die Gewerkschaftseliten nun wohlfeil scheint, den verdienten Begriff Kapitalismus wieder im Munde zu führen, offenbart eine Tendenz, sich die Bedeutungshohheit, mehr noch die Um- und Neuinterpretationrechte originärer Begriffe der marxistischen Analyse im gesellschaftlichen Diskurs quasi urheberrechtlich schützen zu lassen. Das ist natürlich schwachsinnig und von vorgestern- ein nur scheinbares Schattenfechten ohne Trainingserfolg, bei dem das Spiegelbild, der Eigner der Medienmacht zudem öfters mal real zurück schlägt. Die Vertreter der Bourgeoisie, die die traditionellen Kampfbegriffe der Arbeiterklasse nach ihrem Gusto modeln, anstatt sie mit der Kneifzange anzugreifen, sind dagegen modern. Denn ihnen sind Begriffe nichts anderes, als Zugpferde, die man dem Gegner ausspannen muss, um in der Meinungsschlacht zu obsiegen.
Diese Schlacht ist für die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die Benachteiligten, die Armen nur dann zu schlagen, wenn die Kollegen in den Medien bei der Begriffswahl wieder jedes Wort auf die solidarische Goldwaage legen, wenn sie es am Klassenstandpunkt messen, man kann nicht oft genug an die Kollegen appellieren. Aber gerade ihnen, die ebenso vom Abstieg bedroht sind, fehlt das Klassenbewusstsein größtenteils! Es gibt wenige Ausnahmen. Und es gibt die Publikationen, die über das Internet wenigstens eine geringe Anzahl von Menschen erreicht, die durchaus Multiplikatoren werden können. Das ersetzt zwar kein Klassenbewusstsein aber es ist vielleicht so etwas wie die Initialzündung für seine Renaissance. Die Gerichte des bürgerlichen Staats anzurufen, ist die eine Sache, die andere ist Streik.
Ich möchte hier in lockerer Folge unter der Überschrift ‚Umdeutung‘ Beiträge von Autorinnen und Autoren zitieren, die mir geeignet scheinen, Begriffe wie Arbeiterklasse, Klassengesellschaft oder Klassenbewusstsein wieder dort hin zu rücken, wo sie meiner Meinung nach hingehören: auf das Kriegstheater des Klassenkampfs als Werkzeug in den Händen der Arbeiterklasse.
Folge 1:
Am 17. September erschien auf den Internetseiten des Nachrichtenmagazins Hintergrund unter der Überschrift „Den Prolls die Fresse polieren“ – Der Hass auf die Arbeiterklasse hat Hochkonjunktur, eine bemerkenswerter Text von Susann Witt-Stahl, der Geschichte, Zusammenhänge und Ursachen dieser Konjunktur anhand der Situation im Vereinigten Königreich kurz und prägnant skizziert. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin folgt hier als Zitat jener Absatz, der ein bezeichnendes Licht auf die Stigmatisierung der Arbeiter in der BRD wirft.
… und die „Nazi-Hartzler“ in Deutschland
Die Dämonisierung der Arbeiter ein hausgemachtes innerbritisches Problem?
Im Vereinigten Königreich sind die Klassengegensätze traditionell krasser, die Kluften zwischen Arm und Reich noch tiefer als in Deutschland. Entsprechend aggressiver sind die Auswüchse des Hasses auf das „riff-raff“ („Gesocks“).
Aber auch hierzulande ist eine signifikante Zunahme von Sozialchauvinismus und Ressentiments gegen „die da unten“ wahrnehmbar. Bild verbreitet, beispielsweise mit der Kreation und Überzeichnung von Figuren wie „Karibik-Knut“ und „Florida Rolf“, seit Jahrzehnten den Mythos vom massenhaften „Sozialbetrug“. Einige Privatsender haben regelrechte Hetzjagden auf Sozialhilfe-, später auf Hartz IV-Bezieher gestartet.In Reality Shows wie „Frauentausch“ darf der Zuschauer in die unterirdischen Lebenswelten stinkefauler „Prolls“ hinabsteigen. TV-Schuldenberater betreuen coram publico ketterauchende Jogginghosen-Träger, während die „Punkt 12“ beim RTL-Mittagsjournal ihre ersten „Kleinen Feiglinge“ zum Frühstück vernaschen. „Extrem schön“ verwandelt gönnerhaft hässliche kik-Entlein in schöne Versace-Schwäne. Die der neoliberalen Logik entspringende Botschaft der Sendungen: Nehmen Sie Ihr Schicksal selbst in die eigene Hand, dann „werden Sie geholfen“.
Im Täterland ist Hitler nicht nur beliebte Allzweckwaffe der Neokonservativen gegen die Friedensbewegung, auch als Popanz im Kampf gegen die Keynesianer ist er zu gebrauchen: So hat der Historiker Götz Aly herausgefunden, dass die NSDAP- und SS-Führer Leute „aus dem Volk“ waren, „die wussten, was es bedeutet, wenn der Gerichtsvollzieher klingelt, und wie es ist, wenn eine komplette Familie wegen Mietschulden auf die Straße gesetzt wird“. (7) Die Arbeiterklasse im NS-Staat hat in Alys Vorstellungswelt so glücklich und froh gelebt wie der berühmte Mops im Paletot: „Den einfachen Leuten ging es im Nationalsozialismus gut. Sie haben gerne mitgemacht und vom Krieg profitiert“, weiß Aly (und sieht einmal großzügig von den paar Milliönchen ab, die in den Stahlgewittern der Ost-, West-, Nord-, Süd- sowie Feuerstürmen der Heimatfront krepiert sind. Auch die Zigtausende ermordeter und in KZ gepferchter Kommunisten und Sozialdemokraten sind offenbar Peanuts). „Wenn man die Gründe für Auschwitz wirklich verstehen will, soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie ,Flick‘, ,Krupp‘ oder ,Deutsche Bank‘ zu operieren.“ Mörderisch im NS-Staat war doch nicht, wie noch Adorno dachte, die „bürgerliche Kälte“ – nein, es war die „soziale Wärme“.
Den ganzen Artikel von Susann Witt-Stahl lesen Sie hier.